Inge Schmidt-Winkler bei Fachtag in Berlin

„Zuhören – Umdenken – Handeln“

von Inge Schmidt-Winkler, 14.07.2022

Für MARO gehört Barrierefreiheit schon lange zum Konzept. Vlasta Beck bei den Fachtagen in Berlin.

Noch immer tief bewegt von dem Erlebten sitze ich hier und schreibe diesen Bericht. Ja, in den vergangenen zehn Jahren waren wir als MARO auf vielen Fachtagen präsent – mal als Gäste, mal als Sprecher oder im Rahmen eines Netzwerk-Austausches.

Als im Frühling die Einladung vom Bundesministerium für einen Vortrag bei den Inklusionstagen in meinem Mailfach lag, fühlten wir uns geehrt. Und selbstverständlich sind wir gerne nach Berlin gereist.

So machen sich Vlasta Beck als Hüterin des Konzeptes der MARO Wohngemeinschaften und ich also per Bahn auf den Weg, noch nichts ahnend, wie sich unser Blickwinkel auf den normal gelebten Alltag in den nächsten 48 Stunden  verändern würde.

 Bepackt mit unseren Bannern, PC und Mappe machen wir uns voller Vorfreude auf den Weg zur Telekom-Hauptzentrale – einem wunderschön renovierten Altbau mit Gewölbe, Jungendstil-Innenhof und einem rundum einladendem Ambiente. 

 Einmal drin, waren wir positiv überwältigt, vom Aufgebot an Technik, Helfern, Orientierungshilfen.
Auch jetzt noch faszinieren mich die Möglichkeiten, aber auch die Notwendigkeit der technischen Lösungen, der vielen unterschiedlichen Übersetzungshilfen, die aus einer theoretischen eine gelebte Inklusion machen.

Stellen Sie sich ein Plenum mit einer Bühne vor, von der Decke hängt ein Bildschirm von der Dimension einer WM-Übertragung, unzählige Kameras und einen Technikerbereich, wie man ihn von großen Konzerten kennt.

Sichtbar und im Hintergrund arbeiteten etwa 50 Veranstaltungstechniker und -hilfen, um einen reibungslosen Ablauf darzustellen.

Das Plenum begann, auf der Bühne starteten die ersten Vorträge und auf dem „Marktplatz“ – einer weiteren Bühne – die Fachgespräche – alles rund um den Themenkomplex „Inklusion Wohnen“.
Jeder Vortrag wurde simultan in Gebärdensprache übersetzt und auf dem Bildschirm parallel zum Vortrag angezeigt. Die gesprochenen Worte wurden nahezu gleichzeitig getippt und als Untertitel eingeblendet, über die Induktionsschleifen erhielten Menschen mit Hörbeeinträchtigung eine optimierte Tonspur. Zwei Dolmetscher übersetzten in Leichte Sprache und auch diese Tonspur wurde über mobile Geräte an die Zielpersonen übermittelt – alles gleichzeitig!

So gelang es, Menschen mit und ohne Behinderung vor Ort durch die Veranstaltung zu begleiten.
Doch damit nicht genug. Alles wurde noch über drei spezialisierte Kanäle online übertragen, so dass Menschen in Einrichtungen, Wohnheimen oder an den Arbeitsplätzen in den Werkstätten ebenfalls barrierefrei und genau nach ihren Bedürfnissen an den Fachtagen teilnehmen konnten. 

Sie merken es vielleicht – ich bin noch immer begeistert und tief beeindruckt, wie viele Möglichkeiten uns die Technik bietet, um Inklusion zu leben. Doch gleichzeitig wird mir von Stunde zu Stunde mehr bewusst, welcher Kraftakt noch vor uns als Gesellschaft liegt, Inklusion im Alltag wirklich zu leben.

Von einem Vortrag zur Barrierefreiheit nahm ich persönlich, und weil es mich in der täglichen Arbeit betrifft, besonders viel für die MARO mit. Ja, wir können stolz sagen, dass wir unsere Wohnungen barrierefrei nach dem DIN-Standard bauen. Das ist unser Vorteil im Neubau, Bestandssanierungen haben es da oft schwer. Doch erschüttert mich die Erkenntnis, wie oft gerade teure Edelwohnungen hier Käufer und Mieter in die Irre führen, um den Profit zu vergrößern.

Da wird dann von „barrierearm“, „altengerecht“ oder einzelnen Merkmalen wie dem Aufzug gesprochen. Dies suggeriert ein Bild von komfortablem Wohnen und der benötigten Reduktion von physischen Barrieren.  –  Doch wie groß das Hindernis einer noch so kleinen Schwelle sein kann, konnten wir beim Fachtag selbst erleben. Ein Kamerakabel am Boden, eine zu schwere Glastür oder Teller, die schlecht erreichbar sind, werden leicht zu Hindernissen.  –  Doch hier waren sie, die sehr aufmerksamen Experten, die schnell reagierten, das Kabel an die Seite legten, die Glastür arretierten und den Teller reichten. Doch wie ist das außerhalb des Forums?

Hier lag für mich der deutliche Unterschied zu anderen Fachtagen. Es wurde nicht nur informiert oder über besondere Projekte berichtet. Man unterstützte den Dialog, die Mitsprache, und es wurde wirklich zugehört. Menschen, die sonst mit ihren Belangen im Hintergrund bleiben (oder weil es zu aufwendig ist, oft genug bewusst dorthin gedrängt werden), erhielten hier eine Stimme. Plötzlich ging es um ganz pragmatische Fragestellungen und Themengebiete: Toiletten, Mülltonnen, die 170 Euro-Rampe für die Eisdiele, die niemand bezahlen will oder schlicht das Schwarze Brett im Haus, das einfach zu hoch hängt. Es rattert noch immer in unseren Köpfen. Alle haben bis spät in den Abend diskutiert, wie man diese Themen lösen kann, an was wir als Menschen ohne Behinderung überhaupt nicht denken und die Demut wuchs immer mehr. Denn bei allen Problemen geht es uns doch gut. Und es genügt ein Umdenken, um all diese Themen zu lösen.

In den Vorträgen wurden wir gefragt: Was würden Sie sich von der Politik wünschen?
Eine spannende Frage und wenn ich mir die Fördermitteltöpfe, die genannt wurden, einmal ansehe und sie ins Verhältnis zu den Summen setze, die gerade an anderen Stellen investiert werden – so wächst in mir eine Mischung aus Ärger und Unverständnis, wie man so ignorant an den Bedürfnissen der Bürger vorbei Gelder verschwendet.

Einer der Referenten nennt ein Beispiel: Vielerorts werden gerade Straßen und Gehwege aufgerissen, um Glasfaserkabel zu legen. Es wäre kein zusätzlicher Aufwand und auch kein weiteres Budget notwendig, danach statt den üblichen Bordsteinen eine Absenkung und ein taktiles Pflaster zu integrieren. Das würde es nämlich auch den Eltern mit Kinderwagen deutlich erleichtern.

Auch darf Barrierefreiheit für mich nicht im eigenen Wohnumfeld enden, denn was nützt es, wenn zwar die Wohnung funktioniert, aber an der Schwelle zur Haustür bereits Schluss ist. Es keinen Zugang zur Eisdiele gibt, man an der Kasse mit App bezahlen kann – diese aber nicht zu bedienen weiß – wenn also nur von Menschen geplant wird, denen die alltäglichen Barrieren völlig fremd sind?

Der Auftrag ist klar – zuhören, umdenken, handeln!

Barrieren abzubauen beginnt im Kopf und Barrierefreiheit sollte nicht eine besondere Leistung für einige wenige sein, sondern ein Grundrecht für uns alle!

 

Trotz interessantem Programm: Pausen müssen sein! 

 

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